Barrikaden bewältigen: In einem Parcours in Langensteinbach können Betroffene, hier Dunja Reichert, üben, Hindernisse mit dem Rollstuhl zu überwinden. Das ist notwendig, denn dem Landesverband Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen zufolge sind wir weit entfernt von einer barrierefreien Gesellschaft.
Foto: Uwe Anspach/dpa
Südwestecho Di. 05.10.21 Ausgabe Nr.: 230
Betroffene bemängeln unzureichende Infrastruktur / Landeskompetenzzentrum kommt 2022
Artikel von Redakteurin Anika von Greve-Dierfeld
Keine Bordsteine, überall Aufzüge, breite Gehsteige und ebenerdige Zugänge – ein Traum für Rollstuhlfahrer, Menschen mit Gehbehinderung und auch die wachsende Zahl von Senioren. Der Wille ist da und die politische Verpflichtung längst auch. Das Ziel aber ist weit weg.
Karlsbad (dpa/lsw) – Ein Schotterbett, buckliges Kopfsteinpflaster, eine steile und eine etwas flachere Rampe, Stufen, ein Stück Straßenbahnschienen und Gitterbeton. Letzteres ist ein No-Go für Andreas Brandl und auch die Rampe kann er momentan nur mit Mühe bewältigen. Gerade mal ein paar Wochen erst sitzt der 55-Jährige querschnittsgelähmt im Rollstuhl, in den ihn ein Motorradunfall Mitte Juli zwang. Auf dem «Rolli-Parcours» des SRH-Klinikums in Karlsbad-Langensteinbach (Kreis Karlsruhe) übt er nun, was künftig Alltag sein wird: Fortbewegung ohne die Hilfe seiner Beine, Fortbewegung im Rollstuhl. Und das wird schwer werden – egal wie gut Brandl einmal mit seinem Rolli zurechtkommt.
Denn trotz einiger Fortschritte – mit der Barrierefreiheit in Deutschland und im Südwesten ist es aus Sicht von Menschen mit Behinderung und von Sozialverbänden nicht weit her. «Da ist noch megaviel Luft nach oben», sagt zum Beispiel Dunja Reichert, die seit 1997 wegen einer Rückenmarksentzündung nach einem Zeckenbiss im Rollstuhl sitzt. Der vor zwei Jahren erst angelegte Parcours in Karlsbad sei zwar eine wunderbare Möglichkeit, sich im Umgang mit dem Rollstuhl zu üben, sagt die 41-Jährige. Gleichzeitig seien die Bedingungen dort nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was frisch Betroffenen wie Brandl bevorsteht, sobald sie aus den oft monatelangen Aufenthalten in Klinik und Reha in ihr Leben zurückkehren.
«Wir sind weit entfernt von einer barrierefreien Gesellschaft», kritisiert Sabine Goetz, Geschäftsführerin des Landesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen (LSK). «Toilette, Gaststätte, Kino, Arztpraxen, Bahnhöfe, öffentlicher Nahverkehr…», die Liste ist schier endlos. Verweise darauf, dass die Zahl der auf den Rollstuhl Angewiesenen klein sei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung hierzulande – laut Sozialministerium könnten es etwa 40 000 Menschen sein, exakte Zahlen gebe es nicht – seien sehr kurzsichtig: «Wir müssen doch nur auf die demografische Entwicklung schauen! Dann wissen wir, dass Barrierefreiheit sein muss in unserer Gesellschaft.»
Generell stehe der Südwesten gut da, meint das Sozialministerium – «aber das heißt nicht, dass es nichts zu verbessern gibt». Im kommenden Jahr solle ein Landeskompetenzzentrum für Barrierefreiheit errichtet werden. Auch werde derzeit der Landesaktionsplan unter die Lupe genommen und evaluiert. Dieser war erarbeitet worden, nachdem Deutschland sich dazu verpflichtet hatte, die UN-Behindertenrechtskonvention zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung umzusetzen.
Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung (LVKM) gerät bei diesem Stichwort etwas in Rage. «Jedes Mal müssen Menschen erklären, warum sie Teilhabe wollen», sagt sie. Ein Beispiel sei die angestrebte Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr. «Davon sind wir meilenweit entfernt im Land.»
Das Verkehrsministerium entgegnet, auch im ÖPNV sei schon viel erreicht worden. «Und doch müssen wir feststellen: Es gibt noch viel zu tun, um die vielen Fahrzeuge, Haltestellen und Bahnhöfe umzubauen, die noch nicht barrierefrei sind», sagt auch Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Das Land unterstütze die Kommunen dabei.
Auch mit dem Bauen ist es so eine Sache. Nach Einschätzung Betroffener gibt es viel zu viele Ausnahmen und sogenannte «Kann»-Regeln. Und dass, obwohl die Landesbauordnung nach Angaben des Wohnungsbauministeriums für Museen, Schwimmbäder oder Behörden eine «Pflicht zur umfassenden Barrierefreiheit» vorsieht. Schildbürgerstreiche gibt es nach Worten Pagel-Steidls zuhauf: Barrierefreie Räume, dafür das Klo im Untergeschoss. Fehlende Aufzüge in nagelneuen Aussichtstürmen. Knöpfe im Lift, die zwar niedrig angebracht sind, aber doch so in der Ecke, dass ein im Rollstuhl sitzender Mensch nicht drankommt. «Ich könnte einen ganzen Kabarettabend damit füllen», sagt Pagel-Steidl.
Inzwischen sind im Südwesten rund 20 Botschafter für Barrierefreiheit unterwegs, erzählt Goetz. «Es sollen noch viel mehr werden, wenn das Projekt vom Sozialministerium weiter finanziert wird.» Sie sensibilisieren, beraten, stehen Kommunen zur Seite, wenn es um Barrierefreiheit geht. Verkehrsminister Hermann hat diesbezüglich auch gleich eine Botschaft in Richtung Berlin: «Eine neue Bundesregierung muss Barrierefreiheit mit deutlich mehr Engagement verfolgen als die alte!»
Es stimmt schon, dass inzwischen viel mehr über das Thema gesprochen wird als früher, das sieht Dunja Reichert durchaus. «Aber die Probleme tagtäglich sind vielfach gleichgeblieben.» Mit einer Rampe höre für viele Menschen die Inklusion, also die Teilhabe von Menschen am gesellschaftlichen Leben, schon auf. Dabei fange sie damit gerade erst an.
“Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de“.
Barrikaden bewältigen: In einem Parcours in Langensteinbach können Betroffene, hier Dunja Reichert, üben, Hindernisse mit dem Rollstuhl zu überwinden. Das ist notwendig, denn dem Landesverband Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen zufolge sind wir weit entfernt von einer barrierefreien Gesellschaft.
Foto: Uwe Anspach/dpa
Südwestecho Di. 05.10.21 Ausgabe Nr.: 230
Betroffene bemängeln unzureichende Infrastruktur / Landeskompetenzzentrum kommt 2022
Artikel von Redakteurin Anika von Greve-Dierfeld
Keine Bordsteine, überall Aufzüge, breite Gehsteige und ebenerdige Zugänge – ein Traum für Rollstuhlfahrer, Menschen mit Gehbehinderung und auch die wachsende Zahl von Senioren. Der Wille ist da und die politische Verpflichtung längst auch. Das Ziel aber ist weit weg.
Karlsbad (dpa/lsw) – Ein Schotterbett, buckliges Kopfsteinpflaster, eine steile und eine etwas flachere Rampe, Stufen, ein Stück Straßenbahnschienen und Gitterbeton. Letzteres ist ein No-Go für Andreas Brandl und auch die Rampe kann er momentan nur mit Mühe bewältigen. Gerade mal ein paar Wochen erst sitzt der 55-Jährige querschnittsgelähmt im Rollstuhl, in den ihn ein Motorradunfall Mitte Juli zwang. Auf dem «Rolli-Parcours» des SRH-Klinikums in Karlsbad-Langensteinbach (Kreis Karlsruhe) übt er nun, was künftig Alltag sein wird: Fortbewegung ohne die Hilfe seiner Beine, Fortbewegung im Rollstuhl. Und das wird schwer werden – egal wie gut Brandl einmal mit seinem Rolli zurechtkommt.
Denn trotz einiger Fortschritte – mit der Barrierefreiheit in Deutschland und im Südwesten ist es aus Sicht von Menschen mit Behinderung und von Sozialverbänden nicht weit her. «Da ist noch megaviel Luft nach oben», sagt zum Beispiel Dunja Reichert, die seit 1997 wegen einer Rückenmarksentzündung nach einem Zeckenbiss im Rollstuhl sitzt. Der vor zwei Jahren erst angelegte Parcours in Karlsbad sei zwar eine wunderbare Möglichkeit, sich im Umgang mit dem Rollstuhl zu üben, sagt die 41-Jährige. Gleichzeitig seien die Bedingungen dort nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was frisch Betroffenen wie Brandl bevorsteht, sobald sie aus den oft monatelangen Aufenthalten in Klinik und Reha in ihr Leben zurückkehren.
«Wir sind weit entfernt von einer barrierefreien Gesellschaft», kritisiert Sabine Goetz, Geschäftsführerin des Landesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen (LSK). «Toilette, Gaststätte, Kino, Arztpraxen, Bahnhöfe, öffentlicher Nahverkehr…», die Liste ist schier endlos. Verweise darauf, dass die Zahl der auf den Rollstuhl Angewiesenen klein sei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung hierzulande – laut Sozialministerium könnten es etwa 40 000 Menschen sein, exakte Zahlen gebe es nicht – seien sehr kurzsichtig: «Wir müssen doch nur auf die demografische Entwicklung schauen! Dann wissen wir, dass Barrierefreiheit sein muss in unserer Gesellschaft.»
Generell stehe der Südwesten gut da, meint das Sozialministerium – «aber das heißt nicht, dass es nichts zu verbessern gibt». Im kommenden Jahr solle ein Landeskompetenzzentrum für Barrierefreiheit errichtet werden. Auch werde derzeit der Landesaktionsplan unter die Lupe genommen und evaluiert. Dieser war erarbeitet worden, nachdem Deutschland sich dazu verpflichtet hatte, die UN-Behindertenrechtskonvention zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung umzusetzen.
Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung (LVKM) gerät bei diesem Stichwort etwas in Rage. «Jedes Mal müssen Menschen erklären, warum sie Teilhabe wollen», sagt sie. Ein Beispiel sei die angestrebte Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr. «Davon sind wir meilenweit entfernt im Land.»
Das Verkehrsministerium entgegnet, auch im ÖPNV sei schon viel erreicht worden. «Und doch müssen wir feststellen: Es gibt noch viel zu tun, um die vielen Fahrzeuge, Haltestellen und Bahnhöfe umzubauen, die noch nicht barrierefrei sind», sagt auch Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Das Land unterstütze die Kommunen dabei.
Auch mit dem Bauen ist es so eine Sache. Nach Einschätzung Betroffener gibt es viel zu viele Ausnahmen und sogenannte «Kann»-Regeln. Und dass, obwohl die Landesbauordnung nach Angaben des Wohnungsbauministeriums für Museen, Schwimmbäder oder Behörden eine «Pflicht zur umfassenden Barrierefreiheit» vorsieht. Schildbürgerstreiche gibt es nach Worten Pagel-Steidls zuhauf: Barrierefreie Räume, dafür das Klo im Untergeschoss. Fehlende Aufzüge in nagelneuen Aussichtstürmen. Knöpfe im Lift, die zwar niedrig angebracht sind, aber doch so in der Ecke, dass ein im Rollstuhl sitzender Mensch nicht drankommt. «Ich könnte einen ganzen Kabarettabend damit füllen», sagt Pagel-Steidl.
Inzwischen sind im Südwesten rund 20 Botschafter für Barrierefreiheit unterwegs, erzählt Goetz. «Es sollen noch viel mehr werden, wenn das Projekt vom Sozialministerium weiter finanziert wird.» Sie sensibilisieren, beraten, stehen Kommunen zur Seite, wenn es um Barrierefreiheit geht. Verkehrsminister Hermann hat diesbezüglich auch gleich eine Botschaft in Richtung Berlin: «Eine neue Bundesregierung muss Barrierefreiheit mit deutlich mehr Engagement verfolgen als die alte!»
Es stimmt schon, dass inzwischen viel mehr über das Thema gesprochen wird als früher, das sieht Dunja Reichert durchaus. «Aber die Probleme tagtäglich sind vielfach gleichgeblieben.» Mit einer Rampe höre für viele Menschen die Inklusion, also die Teilhabe von Menschen am gesellschaftlichen Leben, schon auf. Dabei fange sie damit gerade erst an.
“Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de“.
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